Schmerz aus dem Stomatognathen System

Als Stomatognathes System bezeichnet man die Gesamtheit aller Strukturen im Kopf-, Mund/Kiefer- und Halsbereich mit ihren weitgehenden Interaktionen und wechselseitigen Abhängigkeiten.

Hierzu gehören die Schädelknochen, Mandibula, Hyoid, Clavicula, Sternum, die Muskeln und Kapsel/Bandstrukturen samt ihren Mechanorezeptoren, die Gesamtheit der Strukturen und Funktionen des Lymphe-, Blut- und Nervensystems sowie das bindegewebige Grundsystem nach Pischinger.

Initial als Auslöser für lokale und periphere Schmerzen aus diesen Bereichen sind:

1. die Kiefergelenke (arthrogen)
2. die Kaumuskulatur (myogen)
3. die Zähne (Herdgeschehen, Materialprobleme)
4. Störungen des Nervus trigeminus

zu 1)   Kiefergelenke

Bei allen Gelenken am menschlichen Körper, außer dem Kiefergelenk, legt die Muskulatur die Gelenksposition fest. An den Kiefergelenken kann die Muskulatur den Kieferschluß herstellen, die finale Position jedoch wird durch die Zähne festgelegt.
Störungen im Zusammenschluß der Zähne führen somit immer zu Fehlstellungen der Kiefergelenke. Jeder Zubiß löst dann eine nervale Fehlermeldung über die Rezeptoren ins System des Nervus trigeminus aus, die bei längerer Dauer zu einer neurologischen Dysorganisation und neuromuskulären Dysbalancen führen.
Diese nervalen und muskulären Störungen können sowohl lokal als auch in der HWS sowie in weit entfernt liegenden Regionen (Becken, unterer Bewegungsapparat) Schmerzen auslösen.

Untersuchungen von Kieferorthopäden und Orthopäden (Kopp,Plato) sowie mehrere universitäre Studien zeigen, daß fast alle untersuchten Patienten mit der Diagnose " atypischer Gesichtsschmerz " craniomandibuläre Dysfunktionen (CMD) aufweisen.
Des weiteren wurden bei 95 Prozent aller HWS-Patienten und bei 50 Prozent aller Patienten mit tiefem Kreuzschmerz eine CMD gefunden. Auch bei vielen Kindern mit Kopfschmerzen und Migräne lagen häufig CMD`s vor.
Orthopädisch finden sich bei vielen dieser Patienten bei festem Zubiß im Liegen eine funktionelle Beinlängendifferenz und Vorlaufphänomene im Stehen an der SIPS sowie weitere veränderte orthopädische Ergebnisse (Leg turn in, Patrik-Kubis-Test).
Gemäß Studien der Universität Münster sowie Wien und italienischer Universitäten besteht eine signifikante Übereinstimmung von Beckenschiefständen, funktionellen Beinlängendifferenzen und Kieferfehlstellungen.
Bei Schmerzphänomenen wie Kopfschmerzen, Migräne und Problemen im Halte- und Stützapparat sollte deshalb auch immer an eine Beteiligung der Kiefergelenke gedacht  werden.
Einfache ärztliche Screeningmethoden sind dabei die Beobachtung der Mundöffnung (Seitabweichung), die Frage nach Kiefergelenkgeräuschen und Hörstörungen sowie Palpation der Kiefergelenke und der Kaumuskulatur.
Therapeutisch steht in Zusammenarbeit mit dem Orthopäden und dem Physiotherapeuten die optimale Einstellung des Kiefergelenkes mit Schienentherapie oder Kieferorthopädie, in schwierigen Fällen unter Zuhilfenahme einer Magnetresonanzaufnahme im Vordergrund.
 
2. Kaumuskulatur
Viele Schmerzzustände im Kopfbereich werden durch Fehlfunktionen der Kaumuskulatur ausgelöst. Die generelle Distress-Situation bei vielen unserer Patienten führt häufig zu Knirschen und Pressen mit den Zähnen, wodurch versucht wird, einen Streßabbau zu erreichen (auf einem Problem herumkauen, sich durchs Leben beißen, usw.).
Bei zusätzlich bestehenden Bißfehlstellungen verstärkt sich diese Problematik noch. Die beständige Überlastung dieser Muskelgruppen im Stomatognathen System führt neben der ständigen Rezeptorenreizung, die wiederum hauptsächlich den Nervus trigeminus betrifft, schließlich zu Myogelosen oder Triggerpunkten.
Besonders Triggerpunkte am Musculus masseter, am Musculus temporalis, am Musculus sternocleidomastoideus oder am Musculus trapezius haben Ausstrahlungen an die verschiedensten Stellen am Körper und müssen bei atypischen Schmerzsymptomen berücksichtigt werden. Als Folge solch langdauernder Muskelfehlfunktionen im Stomatognathen System finden wir häufig massive Verspannungen der kurzen und langen Nackenmuskulatur mit Folgen für den gesamten Halte- und Stützapparat (Blockierungen in der HWS, Beckenfehlstellungen), Facialisstörungen, vegetative Störungen über den Nervus vagus, aber auch Einschränkungen des Lungenvolumens über Verkürzung des Musculus sternocleidomastoideus .
Diagnostisch ist hier immer die manuelle Untersuchung des Muskelsystems zu fordern.
Therapeutisch ist bei allen myogenen und arthrogenen Störungen im Stomatognathen System die Interdisziplinäre Zusammenarbeit von Orthopäden, Manualtherapeuten, Physiotherapeuten, Zahnärzten und Kieferorthopäden notwendig, um Erfolge für den Patienten zu erreichen.

3. Die Zähne

Die Herdlehre, lange ein Stiefkind in der Medizin, tritt in den letzten Jahren immer mehr in den Vordergrund. Das Stomatognathe System stellt ein großes Potential für Focalgeschehen dar.
Mittlerweile nachgewiesen sind die Zusammenhänge von bakterieller Parodontitis mit Herzinfarkt, Schlaganfall, Frühgeburten und Diabetes. Bei lokalen, aber auch chronischen peripheren Schmerzen sollte immer auch an Zahnherde (Zysten, Granulome, wurzelbehandelte Zähne, Kieferostitis in Leerstrecken) gedacht werden. Jeder Zahnherd führt lokal zu einer Störung des Kopflymphatikums. Deutliche  Zeichen hierfür sind Lymphstauungen im Gesicht, sowie peripher palpierbare Lymphknoten speziell im Bereich C2, C3 an den Adler-Langerschen Lymphpunkten.
Bei bakteriellen Zahnherden ist natürlich auch eine Auswirkung auf das gesamte Immunsystem sowie das körpereigene Entgiftungs- und Ausscheidungssystem (Leber, Niere) zu berücksichtigen.
Gerade bei Hochleistungssportlern finden wir häufig muskuläre und arthrogene Schmerzzustände, die von Focalgeschehen aus dem Stomatognathen System ausgelöst werden.
Bei rezidivierenden Blockierungen und Subluxationen im Bereich der Halswirbelsäule, die trotz optimaler Behandlung nicht stabil bleiben, sollten auch diese Zusammenhänge überprüft werden.

4. Nervus Trigeminus

Als größter Hirnnerv, mit Verschaltungen zu allen anderen 11 Hirnnerven und mit Auswirkungen auf das gesamte Körpersystem, versorgt der Nervus trigeminus fast alle Muskeln des Kauapparats, das Kiefergelenk, alle Zähne sowie große Teile der Gesichtshaut und der Zunge (sensorisch).
Die Menge der Rezeptorenmeldungen bei Fehlfunktionen im Stomatognathen System auf den Nervus trigeminus und die nachfolgenden Verschaltungen im gesamten nervalen System müssen bei unklaren, auch peripher weit vom Kopf entfernten Schmerzsyndromen, die diagnostisch nicht einzuordnen sind, immer berücksichtigt werden.

Zusammenfassung

Insgesamt zeigt sich, daß Störungen im Stomatognathen System weitgehende Auswirkungen bezüglich einer Schmerzsymptomatik im Rest des Körpers haben können. Im Sinne einer kybernetischen Denkweise von vernetzten Systemen in unserem Körper ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der jeweils betroffenen Fachdisziplinen notwendig, um nicht nur an Symptomen zu behandeln, sondern Ursachen der Schmerzen zu beheben und so unseren Patienten eine optimale Behandlung zukommen zu lassen.

Vortrag „Schmerztherapeutisches Kolloqium“
 
Dr.R.Meierhöfer
www.drmeierhoefer.de